Coordination gegen BAYER-Gefahren: „BAYER-Wurzeln sterben ab"


Archivmeldung aus dem Jahr 2009
Veröffentlicht: 13.10.2009 // Quelle: Coordination gegen BAYER-Gefahren

Agfa, Dynevo und jetzt DyStar und Tanatex: immer länger wird die Liste der vom BAYER-Konzern abgespaltenen Firmen, bei denen Mitarbeiter entlassen oder die in die Pleite getrieben werden. Beim Farbstoffproduzenten Dystar bangen aktuell 3000 Mitarbeiter um ihre Arbeitsplätze - dabei gehörten die Foto- und Farben-Chemie im 19. Jahrhundert zu den Wurzeln der deutschen Chemieindustrie. Zu den Ursachen des Niedergangs interviewten wir den Chemiker Dr. Hauke Fürstenwerth, ehemaliger Forschungsleiter bei BAYER und Autor des Buchs „Geld arbeitet nicht - wer bestimmt über Geld, Wirtschaft und Politik?“.


Frage: Herr Fürstenwerth, DyStar war der Zusammenschluss der Farben-Chemie von BAYER, Hoechst und BASF, also den drei IG Farben-Schwestern. Wo liegen die Ursachen für die Pleite des Unternehmens, das unter wechselnden Namen fast 150 Jahre lang Farbstoffe produziert hat?

Antwort: DyStar war einem harten Wettbewerb ausgesetzt, den man allein über Kosteneffizienz nicht gewinnen konnte. Man hätte sich vom reinen Rohstofflieferanten zum Systemanbieter weiterentwickeln und neue Geschäftsfelder erschließen müssen. Die hierzu notwendigen Investitionen hat der Finanzinvestor Platinum Equity nicht getätigt. Stattdessen hat man DyStar die Schulden aus dem Erwerb des Unternehmens aufgebürdet. Hoher Kostendruck und nicht tragbare Finanzschulden haben DyStar überfordert.


Frage: Wer den Schutz des BAYER-Konzerns verliert, muss mit dem schlimmsten rechnen. Wie ändern sich der Arbeitsalltag und die soziale Absicherung der Belegschaft nach einem Verkauf an einen Finanzinvestor?

Antwort: Die Sozialleistungen des verkauften Unternehmens werden auf das gesetzlich und tariflich vorgesehene Mindestmaß zurückgeführt. Die zu bedienenden Finanzschulden führen zu maximalen Personaleinsparungen, die Belastungen der verbleibenden Mitarbeiter werden bis hin zur Überlastung ausgereizt.


F.: Welche Auswirkungen hat die Pleite von Firmen wie DyStar, Agfa oder auch TMD Friction für Ihre Heimatstadt Leverkusen?

A.: Verheerende! Im Jahr 2000 hatte die Stadt Gewerbesteuereinnahmen von 100 Mio. Euro, nach der Steuerreform waren es in 2001 nur noch 36 Mio. Euro. Von diesem Einnahmeneinbruch hat sich die Stadt bisher nicht wieder erholt. Die Gewerbesteuereinnahmen verharren auf dem Niveau der frühen 1970er Jahre. 2006 hat die Stadt ihre finanzielle Misere mit einem vom Stadtrat beschlossenen Steuerverzicht von 100 Mio. Euro zu Gunsten von Finanzinvestoren der TMD Friction freiwillig weiter verschärft. Trotz massiver Einsparungen bei allen städtischen Ausgaben wird auf absehbare Zeit kein ausgeglichener Haushalt der Stadt möglich sein. Die Haushaltsplanungen der Stadt unterliegen dem Nothaushaltsrecht. Die Bezirksregierung in Köln gibt harte Einsparvorgaben vor, welche die Stadt einzuhalten hat.

Unternehmen wie DyStar, Agfa oder auch TMD Friction haben bedingt durch ihre hohen Finanzschulden bereits vor der Insolvenz keine Ertragssteuern mehr gezahlt. Weitere in Leverkusen tätige Unternehmen befinden sich ebenfalls im Besitz von Finanzinvestoren, u.a. Momentive Performance Material, Carcoustics, NoVaSep, Strauss Innovation, ATU. Deren Finanzschulden senken ebenfalls die Steuereinnahmen der Stadt. Der Substanzverlust ist in der gesamten Stadt mit Händen greifbar. Es läuft ein sozialpolitischer Erosionsprozess, ganze Stadtteile werden zu sozialen Brennpunkten. Ein Prozess, welcher auch am Standort Frankfurt der ehemaligen Hoechst AG in aller Schärfe zu beobachten ist. Die Hoechst AG ist komplett auf dem Altar der Finanzwirtschaft geopfert worden.


F.: Welche Rolle spielt bei dieser Entwicklung die Unternehmenssteuerreform von 2000, die von Heribert Zitzelsberger, einst Leiter der Steuerabteilung bei BAYER und später Staatssekretär im Finanzministerium, ausgearbeitet wurde?

A.: Die Steuerreform der rot-grünen Bundesregierung folgte dem klassischen neoliberalen Dogma: lasst den Unternehmen das Geld und sie werden es zum Wohle aller investieren, ihre Geschäfte ausbauen und somit Arbeitsplätze schaffen. Ein Dogma, welches auch der Politik der neuen schwarz-gelben Regierung als Richtschnur gilt. Bisher gibt es allerdings keinen empirischen Beleg für den Erfolg dieses Ansatzes, weder bei uns noch in anderen Ländern. Die vielen Steuersenkungen für die Unternehmen haben deren Investitionstätigkeit nicht beflügelt. Seit Jahren ist die Nettoinvestitionsquote der deutschen Industrie rückläufig, daran haben auch die umfangreichen Steuergeschenke der Steuerreform 2000 nichts geändert. Dieses herrschende Dogma blendet die Tatsache aus, dass unter dem dominierenden Einfluss der Finanzwirtschaft die Unternehmen Gewinne im Finanzcasino abliefern statt in die Kreativität ihrer Mitarbeiter zu investieren.

Ein weiteres Ziel der Schröder-Regierung war die Zerschlagung der „Deutschland AG“. Es wurde behauptet, die enge Verflechtung von Banken und Unternehmen müsse aufgebrochen werden, um Wachstumskräfte frei zu setzen. De facto ging es um eine Steuerbefreiung von Veräußerungsgewinnen. Seither müssen Einnahmen aus dem Verkauf von Unternehmen nicht mehr versteuert werden. Damit hat man ein Eldorado für Private-Equity-Fonds, den berüchtigten „Heuschrecken“, geschaffen. Das Geschäftsmodell dieser Fonds beruht darauf, den Erwerb von Unternehmen mit Krediten zu finanzieren, deren Zinsen und Tilgung man auf das erworbene Unternehmen ablädt. Die Liste der Unternehmen, welche auf diese Weise zu Tode gewirtschaftet wurden, ist lang. Sie umfasst neben vielen anderen wohlklingenden Namen auch Namen wie Grohe, Märklin, Wehmeyer, Woolworth, TMD Friction, und nun auch DyStar. Die Heuschrecken sind die Geldeintreiber für das globale Finanzcasino. Sie transferieren Geld aus den Unternehmen ins Casino. Die Steuerreform 2000 hat diese Geschäftspraktiken enorm gefördert. Die Zeche zahlen Unternehmen und deren Mitarbeiter.


F.: Ist eine mittelgroße Stadt wie Leverkusen den globalen Finanztransaktionen multinationaler Unternehmen eigentlich gewachsen?

A.: Wenn sie durch entsprechende politische Rahmengesetzgebung geschützt wird: ja. Wenn man sie aber gemäß der Auffassung vom ehemaligen Vorsitzenden der Grünen, Joschka Fischer, man könne keine Politik gegen die Finanzwirtschaft machen, im Regen stehen lässt: nein. Leider hat sich Fischers Auffassung parteiübergreifend in der Politik durchgesetzt. Und wenn man dann noch wie die Stadt Leverkusen es im Falle TMD Friction getan hat, Heuschrecken mit Steuergeschenken belohnt, wird sie vom Opfer zum Täter.


F.: Sie waren lange Forschungsleiter bei BAYER. Was denken Sie, wenn Sie die Plakate der jüngsten Imagekampagne „Leverkusen und BAYER. Ein starkes Team“ sehen?

A.: Bitte erfüllt dieses Motto wieder mit Leben! Nehmt es euch zum Vorbild, dass BAYER einmal mit freiwilligen Steuervorauszahlungen Infrastrukturprojekte der Stadt wie den Südring oder auch umfangreiche Kultur- und Sportprojekte finanziert hat. Placebos wie publicity-wirksame Spenden an Schulen und Kindergärten, so gut gemeint sie auch sind, sind kein adäquater Ersatz.


F.: BAYER hat im vergangenen Jahr einen Rekordgewinn eingefahren. Trotzdem nehmen die Probleme der Belegschaft durch die ständigen Ausgliederungen, Rationalisierungsprogramme und Betriebsschließungen immer mehr zu. Wie kann die soziale Sicherheit der Mitarbeiter zurückgewonnen werden?

A.: Nur indem das Management sich mit konkreten Leistungen zu seinen Mitarbeitern bekennt. Vordergründige Verweise auf Wettbewerb und Globalisierung dürfen nicht als Vorwand für Sozialabbau missbraucht werden.


F.: Könnte sich BAYER den Forderungen der Finanzwirtschaft nach Eigenkapitalrenditen oberhalb von 20% eigentlich entziehen?

A.: Ja. Diese Kennzahl ist zwar zum politischen Kampfwort geworden, hat aber in der operativen Unternehmenspraxis kaum Bedeutung. Von 1994 bis 2006 haben die deutschen Unternehmen nach Angaben der Deutschen Bundesbank eine durchschnittliche Eigenkapitalrendite von knapp 32% erzielt. Spitzenreiter war der Einzelhandel mit 94%, Schlusslicht der Fahrzeugbau mit 5%. Dennoch ist der Einzelhandel weitaus renditeschwächer als der Fahrzeugbau. Nur arbeitet er mit einem vielfach höheren Fremdkapitalhebel und kann somit die Eigenkapitalrendite verbessern. Eigenkapitalrendite mit Fremdkapital, also Schulden, aufzubessern ist ein Markenzeichen von Hedgefonds. Deren Geschäft sind Wetten im Finanzcasino. Ein solches Gebaren sollte man nicht als Maßstab unternehmerischen Handelns nehmen.


F.: Meinen Sie, dass der Schrumpfungsprozess bei BAYER nun beendet ist oder glauben Sie, dass es zu weiteren Abspaltungen, z. B. im Kunststoffbereich, kommen wird?

A.: Wenn ich die Darstellungen des Unternehmens richtig interpretiere, ist die Optimierung des Geschäftsportfolios, also der An- und Verkauf von Geschäftseinheiten, weiterhin ein wichtiger Bestandteil der Unternehmensstrategie. Die hierbei erzielten Gewinne sind steuerfrei! Ein nicht zu unterschätzender Anreiz.


F.: Schon vor zwei Jahren, also vor Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftskrise, haben Sie vor Subprime Hypotheken und fehlenden Kontrollen der Finanzwirtschaft gewarnt. Die Kosten des Crashs werden nun zum großen Teil von der Allgemeinheit getragen. Was muss getan werden, um eine weitere Erosion des Sozialstaats zu verhindern?

A.: Erosion des Sozialstaats und Finanzkrise folgen der gleichen Ideologie: einem ungehemmten, nicht regulierten „survival of the fittest“, frei von jeder Verantwortung für Mitmenschen und Gesellschaft. Basierend auf den ideologischen Irrlehren von Friedman und Hayek hat man mit der Deregulierung der Finanzmärkte ein Monster geschaffen, welches das soziale Miteinander ruiniert. Es ist heute attraktiver, Wettgeschäfte im globalen Finanzcasino zu tätigen, als in reale Unternehmen zu investieren. Die Finanzwirtschaft hortet unglaubliche Geldmengen. Diese werden in Form von Wettgeschäften, bei denen kein Mehrwert generiert wird, zwischen den Spielern umverteilt. Damit die Illusion eines Wertzuwachses in diesem Casino aufrechterhalten werden kann, muss ständig Geld aus der Realwirtschaft nachgeliefert werden. Hierauf ist nicht nur die Steuergesetzgebung ausgerichtet, auch die Geschäftsstrategien der Unternehmen werden diesem Zwang unterworfen: ausschütten geht vor investieren. Staat und Sozialsysteme werden auf diese Weise ausgetrocknet. Das solidarische Fundament des Gemeinwesens wird gesprengt.

In „Geld arbeitet nicht“ habe ich belegt, dass die Kombination von Gier der Finanzmanager, deren ideologische Rechtfertigung durch den Neoliberalismus und dessen Umsetzung in praktische Politik das Gewinnstreben von der Realwirtschaft in die Finanzwirtschaft verlagert. Diese Kombination führt zur schleichenden Erosion der Sozialen Marktwirtschaft. Sie produziert systemische Arbeitslosigkeit, spaltet die Gesellschaft in reich und arm. Sie zerstört die solidarischen Grundlagen des Gemeinwesens. Hier muss angesetzt werden. Der Primat der Realwirtschaft gegenüber der Finanzwirtschaft muss wieder hergestellt werden. Dazu bedarf es eines tief greifenden Sinneswandels in Politik und Wirtschaft.

Fragen: Philipp Mimkes (Coordination gegen BAYER-Gefahren e.V.)


Anschriften aus dem Artikel: Alte Landstr 129, Albert-Einstein-Str 58

Kategorie: Politik
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