„Kultur muss süchtig machen“

Interview mit Nikolas Kerkenrath, Leiter der Bayer Kulturabteilung

Archivmeldung aus dem Jahr 2007
Veröffentlicht: 14.06.2007 // Quelle: Bayer

Im Cordjackett, ohne Krawatte – so präsentiert sich Nikolas Kerkenrath am liebsten. Schließlich sei er kein Manager, sondern Kulturmacher. Leitmotiv seiner Arbeit: die Werte der Bayer Kulturabteilung immer wieder neu zu definieren.

Vor 21 Jahren lockte Bayer Sie aus der französischen Schweiz nach Leverkusen. Wie ist dem Unternehmen das gelungen?
„Ich wollte eigentlich nicht mehr nach Deutschland zurück. Aber die Möglichkeiten bei Bayer waren grandios. Eine Bedingung hatte ich allerdings: Ich wollte die Kulturarbeit über Leverkusen hinaus ausweiten und bei den Spielplänen bestimmte Themenschwerpunkte setzen. Bayer hat mir das ermöglicht.“

Wäre Leverkusen allein zu klein, zu provinziell?
„Das ist es nicht. Ich habe immer in der sogenannten Provinz gelebt, weil ich Großstädte nicht mag. Es ging mir darum, mit Bayer-Standorten im In- und Ausland zu kooperieren und somit die Kulturarbeit in der Region, in Deutschland, aber auch international bekannter zu machen. Damit die Mitarbeiter und die Öffentlichkeit dort wahrnehmen, dass Wirtschaftsräume für Bayer auch Kulturräume sind.“

Gibt es ein Projekt, das besonders gut ankam?
„Es gibt so viele! Eine unserer größten Erfolgsgeschichten war die Französische Spielzeit von 1989. Anlass war die 200-Jahr-Feier der Revolution. Wir haben ausschließlich Französisches aufs Programm gesetzt – Musik, Tanz, Theater und Kunst. Damit haben wir Frankreich als Bayer- und Kulturland hier ins Gespräch gebracht. Und gleichzeitig wurden wir bei unseren Nachbarn bekannt. Sogar das französische Kulturministerium zeigte sich beeindruckt.“

Wovon genau?
„Zum einen von der Wertschätzung für Frankreich, die Bayer damit zum Ausdruck gebracht hat. Zum anderen davon, dass Kultur ein so wichtiger Bestandteil unternehmerischer Verantwortung ist. Bayer gehörte zu den ersten Unternehmen, die sich Bildung und Kultur auf die Fahnen geschrieben haben. Dieses ursprüngliche Modell ist über ein Jahrhundert, über zwei Kriege und viele Krisen hinweg intakt geblieben.“

Gilt das Motto der Anfangszeit noch: Kulturarbeit ist Bildungsarbeit?
„Das ist das Leitbild der Bayer-Kultur – und mein persönliches. Mir und uns geht es um Substanz, um Kultur mit einer sozialen, menschlichen Komponente.“

Was bedeutet das konkret?
„Zunächst haben wir ein kulturelles Credo, kein Marketing-Credo. Das Künstlerische muss Priorität haben vor dem Kommerz. Wir müssen Kultur immer wieder durchdenken, um sie in die Gesellschaft einzubringen.“

Sehen Sie eine gesellschaftliche Verantwortung der Kulturschaffenden?
„Ja, unbedingt. Kulturmacher müssen Werte bewahren, die zu verfallen drohen. Kommerzielle Einflüsse führen dazu, dass banale und brutale Inhalte in Medien und Kultur immer mehr Raum einnehmen. Als Kulturmacher dürfen wir uns nicht anbiedern, sondern müssen an traditionellen und humanistischen Werten festhalten.“

Das könnten insbesondere junge Menschen ziemlich angestaubt finden …
„Ich glaube nicht, dass unser Konzept angestaubt ist, ich möchte es eher „alternativ“ nennen – als Alternative zu Vielem von heute, was die Gesellschaft durcheinander bringt. Klassik ist für uns eine Qualitätskategorie.“

Wie überzeugen Sie das Publikum von morgen von dieser Qualität?
„Kultur muss junge Menschen auf positive Art süchtig machen. Dafür suchen wir den Dialog mit städtischen Bildungsträgern, beispielsweise mit Schulen. Auf deren vielfachen Wunsch hin setzen wir vor allem Klassiker wie Goethe, Sartre oder Brecht aufs Programm. Das unterstützt den Deutsch- oder Geschichtsunterricht und führt das junge Publikum zurück zu den Wurzeln. Klassiker werden heute besser angenommen als aktuelles, sozialkritisches Theater, wie wir es vor Jahren angeboten haben. Darüber hinaus sprechen wir die ganz junge Zielgruppe an: Kinderkonzerte und -theater sind feste Größen in unserem Spielplan. Sie müssen einmal so ein Konzert erleben. Die Kinder sind begeistert, die Eltern auch, wollen auf die Bühne, die Instrumente sehen, mitmachen.“

Diese 100. Spielzeit ist die letzte, die Sie als Leiter der Kulturabteilung begleiten: Welche Wünsche haben Sie für die Zeit danach?
„Ich wünsche mir, dass die Bayer Kulturabteilung weiterhin Werte pflegt und dem Trend zur „Eventisierung“ widersteht. Außerdem: Jetzt, wo Bayer einen Standort in Berlin hat, sollte sich das Unternehmen dort ebenfalls engagieren. Es ist ein Glücksfall, dass sich dieser Bayer-Standort in einer kulturellen Metropole befindet. Diese Komponente hat bisher gefehlt.“

Sie haben in zwei Jahrzehnten vieles bewegt. Sind Sie stolz darauf?
„Nein, nicht stolz – ich bin glücklich. Glücklich über den Jubiläumsspielplan, aber auch darüber, dass ich in 20 Jahren sehr frei arbeiten konnte. Dass fast alle meine Ideen kulturell und unternehmensbezogen funktioniert haben und dass wir damit aus einer Art Enklave Leverkusen Brücken in die Welt geschlagen haben, die uns viel Sympathie eingebracht haben. Unsere Arbeit hat viele Türen geöffnet: etwa bei Bayer in Frankreich, Russland, Polen, Österreich, in Asien, Lateinamerika oder den USA. Das hat uns weitergebracht, hieran können wir anknüpfen.“

Biografie Nikolas Kerkenrath
Nikolas Kerkenrath wurde 1940 in Schwerin geboren. 1964 und 1965 erhielt er wichtige Impulse und Orientierungen bei Rolf Liebermann an der Hamburgischen Staatsoper und bei Arno Wüstenhöfer an den Wuppertaler Bühnen. Auf Empfehlung Liebermanns begann er seine Laufbahn am Stadttheater Luzern. Von 1968 bis 1981 inszenierte er dort und an Theatern in Baden, Aarau, Bern, Lausanne und Genf. Danach arbeitete er als Kulturjournalist für Schweizer Zeitungen und die Fachzeitschrift Opernwelt sowie für das „Kulturprozent“ der Migros. 1984 gründete er das Festival Théâtres d’Eté in Nyon, das er bis zu seinem Wechsel zu Bayer im Jahr 1986 leitete.

In Leverkusen setzte Kerkenrath auf ein Konzept, das für Bayer neu war: Er richtete den Spielplan thematisch aus, bezog die anderen Standorte in Nordrhein-Westfalen dabei ein und kooperierte mit vielen Bayer-Niederlassungen im Ausland. Ein Schwerpunkt seiner Arbeit war von Beginn an die Beziehung zu Frankreich. Kerkenrath machte französische Künstler hierzulande bekannt und die Bayer-Kulturabteilung zum ständigen Partner von Bayer France. Seit 2000 ist Nikolas Kerkenrath Mitglied im Deutsch-Französischen Kulturrat. Für seine Verdienste um den interkulturellen Dialog wurde er mit den französischen Orden „Chevalier de l’Ordre National du Mérite“ und „Officier de l’Ordre National du Mérite“ ausgezeichnet.


Anschriften aus dem Artikel: Albert-Einstein-Str 58, Alte Landstr 129

Kategorie: Kultur
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