Leserbrief

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"Neue Wege gehen! / Zur Privatisierung kommunaler Aufgaben"
aus Nr. 158 erreichte uns ein weiterer interessanter Leserbrief:

Da hat Gregor mit seinem Beitrag in der Nr. 158 wohl einiges losgetreten. Damit die Sache noch etwas spannender wird, einige Anmerkungen:

1. Zu der Organisationsprivatisierung (formelle Privatisierung)

Gregor hat in seinem Beitrag richtig herausgestellt, daß die Aufgabe bei der Gemeinde bleibt, die Durchführung erfolgt in privater Rechtsform. Beispiel: Bundesbahn, Flugsicherung. In Kommunen werden aus Eigen- oder Regiebetriebe sogenannte Eigengesellschaften. Aber: Eine "Entstaatlichungsklausel" wie sie § 7 Bundeshaushaltsordnung ("Die Grundsätze der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit verpflichten zur Prüfung, inwieweit staatliche Aufgaben oder öffentlichen Zwecken dienende wirtschaftliche Tätigkeiten durch Ausgliederung und Entstaatlichung oder Privatisierung erfüllt werden können.") enthält, gibt es in der GO NW nicht.
Gefährlich an der Organisationsprivatisierung ist, daß sich eine GmbH zum "Selbstläufer" entwickelt; die Einwirkungsmöglichkeiten der Gemeinde werden reduziert. Das hat auch etwas mit dem Demokratiegebot des Grundgesetzes zu tun. Bei einer Aufgabenwahrnehmung durch die Gemeinde wird die Tätigkeit durch den Rat kontrolliert, bei einer Aufgabenerledigung durch eine GmbH kontrolliert ein (nicht von der Bevölkerung unmittelbar gewählter) Aufsichtsrat.
Letztendlich muß man feststellen, daß eine Organisationsprivatisierung keine echte ist, Wettbewerb findet i.d.R. nicht statt.


2. Zu der Aufgabenprivatisierung (materiellen Privatisierung)

Private führen die Aufgabe im eigenen Namen durch, das Risiko liegt bei privaten Anbietern. Diese hat sogar Vorteile: Flexibilität ist gewährleistet, weil kein Haushaltsrecht, kein Landespersonalvertretungsgesetz und auch Beamtenrecht oder auch Tarifvertrag des öffentlichen Dienstes "stört".
Effizienz, nämlich Anreize zur Kostensenkung durch Gewinnstreben der Privaten.
Freiheit, nämlich durch Rückzug des Staates.
Aber: Werden die Möglichkeiten des Haushaltsrechts voll ausgeschöpft?
Ist ein Privater auch dann effizient, wenn er keine Konkurrenz hat (Rheinbahn, RWE, AWL)? Ohne Konkurrenz, ohne Wettbewerb ist alles nur eine Organisationsprivatisierung! Schwächt die Freiheit (des Unternehmertums) nicht die kommunale Selbstverwaltung? Ein Unternehmer wird unter ökonomischen Gesichtspunkten Entscheidungen treffen, politische Entscheidungen (die demokratisch legitimiert sind) treten zurück.
Materielle Privatisierung bedeutet auch, Nachteile in Kauf zu nehmen: Die Sicherheit der Aufgabenerfüllung liegt bei Privaten. Weitgehender Verlust von Steuerungs- und Kontrollrechten. Aushöhlung der kommunalen Selbstverwaltung.
Vor einer materiellen Privatisierung ist zu klären: Wer haftet strafrechtlich? Wer geht in die JVA, wenn der beauftragte Unternehmer einen Kinderspielplatz nicht ordnungsgemäß in regelmäßigen Abständen auf Sicherheit überprüft hat und ein Kind verunglückt?
Wer hat die Erfüllungsverantwortung? Bei wem dürfen sich die Bürger beschweren, wenn die privatisierte Leistung nicht ordnungsgemäß erbracht wird?
Wer hat die Kontrollverantwortung (bei Eigengesellschaften: Rechnungsprüfungsamt, Wirtschaftsprüfer, Aufsichtsrat)?
Was ist, wenn sich der Private in eine vom Rat unerwünschte Weise entwickelt? Wie kann korrigiert werden?

3. Beauftragung Dritter (Contracting Out)

Dies kann ein Vorteil sein, muß aber nicht. Am Beispiel der der Säuberung einer verschmutzten Grünfläche soll zur Diskussion angeregt werden:
In der kommunalen Praxis ist es nicht ungewöhnlich, daß sich Bürger über Mißstände beschweren, seien es verschmutzte Grünanlagen, seien es lose Bürgersteigplatten, seien es übermalte Schilder. Es gibt genügend Beispiele, die Bürger veranlassen, bei der Stadtverwaltung Abhilfe zu verlangen. Besonders auffällig sind solche Anforderungen vor Schützenfesten, Karnevalsumzügen und sonstigen lokalen Veranstaltungen. Nachfolgend soll das Beispiel einer verschmutzten Grünanlage vor einem Schützenfest beschrieben werden.
Aus irgendwelchen Gründen hängen meterlange ADV-Papier-Perforationsstreifen im Gehölz. Ein Bürger hat bei der Verwaltung angerufen und Abhilfe gefordert. Er könnte auch einen Ratsherren angerufen haben, und dieser kümmert sich um Abhilfe, indem er bei der Verwaltung anruft.
Für die Analyse des weiteren Geschehensablauf ist von zwei unterschiedlichen Situationen auszugehen:
1. Die städtischen Grünanlagen werden von eigenen Grünkolonnen gepflegt.
2. Die Pflege der Grünanlagen ist bereits "privatisiert", sie von einem Unternehmer gepflegt.
Die Lösungen:
1. Städtische Grünkolonne:
Die Grünkolonne arbeitet natürlich zum fraglichen Zeitpunkt nicht in der verschmutzten, sondern in einer anderen Grünanlage, nennen wir sie Stadtpark. Über Funk fordert der Vorgesetzte im Amt den Kolonnenführer auf, "'mal eben mit zwei Leuten zur Grünanlage zu fahren und die ADV-Streifen zu entfernen". Tatsächlich fahren diese auch um 9.00 Uhr los, sind um 9.15 Uhr in der verschmutzten Grünanlage und reinigen diese. Um 12.00 Uhr kommen sie zu ihrer Kolonne zurück und machen erst einmal Mittagspause.
Für die Beobachter stellt sich die Situation unterschiedlich dar: Derjenige, der die drei städtischen Arbeiter in der verschmutzten Anlage arbeiten sieht, ist froh und freut sich über die Dienstleistung. Dagegen sieht der Beobachter der Arbeiten im Stadtpark, daß von den sieben Arbeitern der Kolonne um 9.00 Uhr drei wegfahren und gegen 12.00 Uhr, als sie zurückkommen, Mittagspause machen. Daß zwischendurch 9 Mannstunden, also mehr als das Tagesarbeitspensum eines Mannes, für eine andere Tätigkeit verbraucht wurde, kann dieser Beobachter nicht wissen. Dafür bestätigt sich der Verdacht, daß die Mitarbeiter der Grünkolonne weniger Leistung bringen als ein privater Unternehmer. Im Gegensatz zu den "öffentlich bezahlten Grünarbeitern" hält er nämlich seine Leute beisammen und sorgt dafür, daß sich nicht 3 seiner Leute vormittags für drei Stunden "einen Lenz" machen. Das Bild von den "Faulpelzen" im öffentlichen Dienst hat sich bestätigt.
Die zusätzlich entstandenen Kosten für die Arbeit im Stadtpark werden nicht erfaßt und und damit auch nicht dem Auftraggeber weiterverrechnet, da die Mitarbeiter der Grünkolonne sowieso da sind.
2. Unternehmerleistung
Der zuständige Sachbearbeiter im Grünflächenamt kann den Unternehmer auffordern, die Grünanlage zu säubern. Dies stellte für diesen einen Zusatzauftrag dar, der vom normalen Pflegevertrag nicht erfaßt wird. Also wird er kalkulieren:
4 Stunden à 3 Mann à 39,50 DM 474,00 DM
4 Stunden 3-Achsen-LKW à 70,00 DM 280,00 DM
Zwischensumme 754,00 DM
zzgl. Mehrwertsteuer 113,10 DM
Summe 867,10 DM
Lohn und Fahrzeugkosten für die Zwischendurchpflege erfordern also einen finanziellen Aufwand von insgesamt 867,10 DM.
Nun wird man einwenden können, daß der Unternehmer vier Stunden kalkuliert hat, während bei der Arbeitsleistung der eigenen Mitarbeiter nur drei Stunden eingesetzt worden sind. Außerdem ist der Einsatz eines 3-Achsen-LKW zum Transport von drei Gärtnern überzogen.
Tatsächlich überlegt der Unternehmer wie folgt:
Seine Arbeiter sind in einem bestimmten Bereich eingesetzt, in dem sie einen bestimmten und von ihm genau kalkulierten Gewinn erwirtschaften sollen. Jede Arbeitsunterbrechung führt zu einer nicht vorgesehenen Minderung des Gewinns und bereitet hinsichtlich des Zeitverbrauchs für Anschlußaufträge Probleme. Also müssen die drei von ihrer Arbeitsstelle abgezogenen Gärtner für die Sonderarbeit mindestens soviel Geld bringen, wie bei der eigentlichen Arbeitsstelle verloren wird.
Der Einsatz des viel zu großen LKW (schließlich hätte ein kleinerer Pritschenwagen zum Preis 45,00 DM pro Stunde auch ausgereicht) ist damit begründet, daß an der Einsatzstelle, von der die drei Arbeiter weggerufen werden, kein Pritschenwagen, sondern der 3-Achsen-LKW steht. Es würde die Dienstleistung des Unternehmers nur verteuern, wenn erst ein kleineres Fahrzeug beschafft werden müßte.
In Zeiten eines Haushaltssicherungskonzepts hat man als Stadt für die Zusatzleistung des Unternehmers aber kein Geld übrig. Es bleibt also bei der verschmutzten Grünanlage. Da Dreck Dreck magisch anzieht, dauert es nicht lange, und aus der verschmutzen Grünanlage wird eine wilde Müllkippe. Wilde Müllkippe bedeutet auch organische Abfälle. Diese locken kleine, niedliche Nagetiere mit langem Schwanz an. Dies wiederum ruft das Ordnungsamt auf den Plan, und diese Behörde ordnet die Beseitigung der wilden Müllkippe an. Den Auftrag hierzu erhält die AWL - und ... (den Rest darf man sich selber ausdenken).
Vor daher muß man bei jedem contracting out die Frage beantworten, wo der wirtschaftliche Vorteil für den Bürger liegt. Der Verweis auf gute Erfahrungen in den USA bringt uns auch nicht weiter. Es geht nämlich um lokale Interessen - und die müssen unter Berücksichtigung lokaler Besonderheiten geregelt werden.

4. "Verstadtlichung" von bisher durch Unternehmer erledigte Aufgaben

Mit der Reform der Gemeindeordnung imJahre 1994 wurden die Vorschriften über die wirtschaftliche Betätigung neu gefaßt. Der neue § 107 lautet jetzt:

(1) Die Gemeinde darf sich zur Erledigung von Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft wirtschaftlich betätigen, wenn
1. ein dringender öffentlicher Zweck die Betätigung erfordert und
2. die Betätigung nach Art und Umfang in einem angemessenen Verhältnis zur Leistungsfähigkeit der Gemeinde steht.
Als wirtschaftliche Betätigung ist der Betrieb von Unternehmen zu verstehen, die als Hersteller, Anbieter oder Verteiler von Gütern oder Dienstleistungen am Markt tätig werden, sofern die Leistung ihrer Art nach auch von einem Privaten mit der Absicht der Gewinnerzielung erbracht werden könnte.

Das alte Recht erhielt eine sog. "Subsidiaritätsklausel", wonach sich die Gemeinde nur in bestimmten Fällen unternehmerisch betätigen durfte. Diese ist ersatzlos weggefallen. Nach neuem Recht wäre also denkbar, daß die Stadt als Konkurrent zu den Bestattungsunternehmern auftritt und sämtliche Leistungen bei einem Todesfall anbietet. Und wenn es für den Bürger finanziell vorteilhaft ist, läßt sich wenig dagegen sagen.


5. Warum also Privatisierung?

Auch wenn ich an dieser Stelle Fragen stelle, sollten sie nicht als Drang nach Wissen, sondern als eine Art Checkliste verstanden werden:
  1. Als Instrument staatlicher bzw. stadtlicher Ordnungspolitik?
  2. Als Instrument staatlicher bzw. stadtlicher Finanzpolitik?
  3. Als Instrument zur effektiveren Wahrnehmung von Verwaltungsaufgaben?
  4. Erlauben Zwänge des Dienst- und Vergütungsrechts keine wirtschaftliche Personalpolitik?
  5. Welche Vorschriften des Haushaltsrechts führen zu wirtschaftlichen Problemen? Oder ist es nur Unwissenheit der "Finanzokraten"?
  6. Verhindert etwa politische Einflußnahme Entscheidungen, die an sachlichen Erfordernissen orientiert sind?
  7. Können Private steuerliche Vorteile und Subventionen besser in Anspruch nehmen als Kommunen?
Wenn die Privatisierung (wie auch immer ausgestaltet) sich für die Bürger rechnet, sollte sie durchgeführt werden. Wenn nicht, sollte man die Finger davon lassen. Eigentlich ganz einfach!

Helmut Fiebig
Anna-Seghers-Str. 17
40789 Monheim am Rhein

Anm. der Red.: Wir sind unserem alten Freund Helmut nicht nur für seine lichtvollen Ausführungen, sondern auch dafür dankbar, daß er uns seinen Leserbrief auf Diskette im ASCII-Format zugeschickt hat. Zur Nachahmung empfohlen!