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Lehrer sind auch nur Menschen

Ein kritischer Artikel zur Notengebung

Sind mündliche Noten etwa Willkür der Lehrer? Zu einer solchen radikalen Fragestellung könnte man kommen, wenn man sich einfach mal intensiv in der Schülerschaft umhört: "Die Lehrer haben ohnehin ihre Lieblingsschüler und gegen die kommt man nicht an." Oder: "Meine Note war nicht gerechtfertigt, das haben alle gesagt!"

Wie kommt es aber dazu, dass solche Meinungen in der Schule auftreten?
Es ist eindeutig: Jeder Lehrer hat seine Lieblingsschüler, der eine mehr, der andere weniger. Dabei ist das menschlich gesehen auch völlig normal: Man entwickelt nun einmal für bestimmte Menschen Sympathien, andere hingegen kann man nicht so gut leiden. Wenn sich diese Beziehungen dann aber auch auf den Unterricht auswirken, ist das für alle Schüler eine Gefahr. Auf der einen Seite findet eine Aufwertung statt, die dem bevorzugten Schüler ein falsches Selbstbild vermittelt, auf der anderen Seite werden die anderen Schüler benachteiligt.
Diese Benachteiligung wird in drei Punkten besonders deutlich:
1. Viele Lehrer kennen, trotz mehrjährigen Unterrichts, einige Namen von bestimmten Schülern, die ihnen unsympathisch sind, immer noch nicht. Sie rufen die Schüler, wenn es denn dazu kommt, mit "ja, bitte" oder mit "und du?" auf.
2. Diese Schüler werden häufig erst gar nicht aufgerufen. Sie können sich auch noch so oft melden, die Lehrer haben sie häufig gar nicht mehr im Blickfeld. Dabei scheint es fast wie Hohn, wenn der Lehrer nach der Stunde zu dem betroffenen Schüler geht und ihm mitteilt, dass er sich mehr melden muss, weil er sonst eine schlechte Note bekommt. Erwidert der Schüler er hätte sich doch die ganze Zeit gemeldet, bekommt er zu hören, man hätte dies nicht gesehen, würde aber in der nächsten Stunde darauf achten. Doch in der nächsten Stunde zeigt sich meist das gleiche Bild. Erst wenn eine besonders schwere Frage gestellt wird, auf die kein Schüler eine Antwort weiss, wird der betroffene Schüler aufgerufen. Dieser kann natürlich nicht antworten: Die schlechte Note ist ihm sicher.
3. wird bei den bevorzugten Schülern die Antwort, die sie geben, meist direkt akzeptiert. Die Antwort der Anderen wird hingegen oft bemängelt und zurückgewiesen. Besonders deutlich wird diese Diskrepanz, wenn zunächst ein eher unbeliebter Schüler eine Antwort gibt, die aber vom Lehrer als völlig falsch zurückgewiesen wird. Formuliert nun ein beliebter Schüler kurz darauf dieselbe Antwort, nur mit einem anderen Wortlaut, hat dessen Aussage doch "schon einen richtigen Ansatz". Inhaltlich haben beide genau dasselbe erzählt, nur bei dem unbeliebteren Schüler hat sich der Lehrer nicht die Mühe gegeben, den Schüler zu verstehen.
Folge dieser Benachteiligung ist eine Einschüchterung der unbeliebteren Schüler. Sie fühlen sich vom Lehrer missverstanden und glauben, dass sie sich vor der Klasse lächerlich machen. Deshalb trauen sie sich nicht mehr, sich zu melden, und verlieren dadurch natürlich zusätzlich Punkte für gute Noten.
Oft scheint es auch so, dass ein Lehrer Wandlungen von Schülern nicht wahrnimmt. Er hat sich einmal ein Bild von einem Schüler gemacht, und dieses dominiert die gesamte Schullaufbahn. Dies gilt auch wieder für beide Seiten: Schüler, die am Anfang der Schullaufbahn strebsam, intelligent und sympathisch wirkten, können über die Jahre um einiges schlechter werden, behalten aber dennoch dieselbe Note. Sie genießen den vollen Vorteil. Sie machen kaum mehr Hausaufgaben, zeigen weniger auf und arbeiten insgesamt weitaus schlechter als andere Schüler mit. Sie behalten aber die vorherige Note, da der Lehrer sie "ins Herz geschlossen" hat. Die Schüler hingegen, die zu Anfang als unangenehm, störend und schlecht empfunden wurden haben kaum eine Chance, sich nach Jahren bei dem gleichen Lehrer zu bessern. Obwohl sie regelmäßig Hausaufgaben machen und versuchen, durch Referate gute Noten zu bekommen, zeigen viele Lehrer kaum Änderungen in ihrem Verhalten. Darüber sind diese Schüler natürlich oft "gefrustet" und geben ihren Weg zur Besserung auf, da es sich ja ohnehin nicht lohnt.
Ein weiteres Problem, das sich auftut, ist die Unterscheidung von schriftlichen und mündlichen Noten bei Lehrern. Vor allem in der Oberstufe werden häufig Schüler entdeckt, die im schriftlichen Bereich überragen. Da aber schriftliche und mündliche Leistung möglichst gleichwertig gewertet werden sollten, kann der mündliche Bereich diesen begabten, aber schüchternen Schülern die Note verderben.
Daher scheuen sich viele Lehrer, obwohl es ihre Pflicht ist, beide Teile der Leistung zu bewerten bzw. die mündliche Note gleichwertig einzubringen. Dabei ist ihnen aber nicht bewusst, dass sie den schüchternen Schülern damit keinen Gefallen tun: Diese werden durch diese Bevorzugung nämlich nicht aufgefordert, mehr Aktivität an den Tag zu legen, sondern sie bleiben weiterhin ruhig und zurückgezogen. Das hilft ihnen im späteren Leben auch nicht. Auf der anderen Seite gibt es Schüler, denen es unheimlich schwer fällt, sich schriftlich auszudrücken und vernünftige Texte zu formulieren. Inhaltlich zeigen sie aber doch sinnvolle Ansätze, die sie vielleicht dafür mündlich gut vortragen könnten. Diese Möglichkeiten werden von Lehrern aber oft übergangen, da für sie die schriftliche Leistung überwiegt. Förderungen in diesem Bereich bleiben aus.
Alle diese aufgeführten Kritikpunkte sind natürlich nicht bei jedem Lehrer und vor allem nicht so ausgeprägt wiederzufinden. Jeder Lehrer hat seine Eigenheiten und unterrichtet individuell. Viele bemühen sich auch wirklich, weitgehend objektiv zu bewerten, und vielen gelingt dies auch. Dennoch gibt es immer wieder Extremfälle, und die meisten zeigen in einem der Bereiche immer wieder Schwächen. Ich war selber über diese Beobachtung überrascht. Aber selbst ein Lehrer, den ich für durchaus objektiv gehalten habe, hat mich am Ende des letzten Schuljahres etwas enttäuscht: Eine bis dahin recht gute Schülerin hat ein Referat halten müssen. Der Lehrer hatte ein gutes Bild von ihr. Das Referat war für uns Schüler sehr unübersichtlich und schlecht verständlich. Wir haben eine schlechte Note für die Schülerin erwartet. Sie erhielt dennoch eine sehr gute Note. Beschweren wollte sich keiner. Denn das bedeutet immer, sich bei dem Lehrer unbeliebt zu machen, und wie oben schon aufgeführt, kann sich das folglich sehr negativ auswirken.
Es scheint also tatsächlich so zu sein, wie es von jeder Seite gesagt wird: Die Lehrer sitzen immer am längeren Hebel! Die Notengebung scheint kaum beeinflussbar. Die Lehrer sagen zwar immer, man solle sich beschweren, wenn man sich ungerecht behandelt fühlt. Aber im Endeffekt tritt kaum eine Besserung ein. Im Gegenteil: indem man Kritik an dem Lehrer übt, macht man sich wieder unbeliebt, was sich eventuell negativ auf die nächste Zeit auswirken kann.
Was von meiner Seite also nur kommen kann, ist ein Appell an die Lehrer, sich (noch) mehr zu bemühen, objektiv und gerecht zu beurteilen. D.h.: Persönliche Vorlieben im Unterricht abzuschalten, wirklich auf die erwartete Leistung Wert zu legen und möglichst alle gleich zu behandeln. Der menschliche Aspekt sollte dabei natürlich nicht vollkommen verloren gehen.
Ich weiss, dass diese Forderung ziemlich überheblich und für manche vielleicht auch nicht nachvollziehbar erscheint; aber man sollte sich einfach nur mal intensiv in der Schülerschaft umhören und schon bald würde jedem Lehrer klar werden, dass sich viele Schüler ungerecht behandelt fühlen, und das sogar mit Recht.

Holger Stawitz