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Harry Potter

Wie zum Henker schafft es ein Jugendbuch zum Weltbestseller?

Diese messerscharfe Analyse beginnt mit einem Geständnis: Auch ich bin Harry Potter erlegen. Natürlich ist das keine Schande, denn "You-Know-Who" (hä...?) und Millionen anderen ging's genauso.
Trotzdem: "Harry Potter And the Philosopher's Stone" (US-Titel: "... and the Sorcerer's Stone"; deutsch: "Harry Potter und der Stein der Weisen") ist eigentlich nichts weiter als ein ziemlich gutes Buch für Menschen ab 9 Jahre. Das Handlungsmuster ist auch nicht so sensationell neu, daß es den überwältigenden Erfolg - auch bei Erwachsenen - auf Anhieb erklären könnte. Wer die "Klassiker" im deutschen Markt kennt (und vielleicht auch früher verschlungen hat), also etwa Michael Endes "Jim Knopf" und "Momo" oder die stärker Fantasy-geprägten Bücher von Astrid Lindgren ("Mio, mein Mio", "Die Brüder Löwenherz", "Ronja Räubertochter" usw.), wird "Harry Potter" keineswegs als vollkommen herausragend empfinden, ohne daß ihm Originalität abgesprochen werden kann.


Die Handlung

Harry Potter wächst bei Tante und Onkel, den Dursleys, auf, die ihn als letzten Dreck behandeln und gleichzeitig ihren eigenen Sohn Dudley. (der etwa so alt ist wie Harry) hemmungslos verwöhnen. Seine Eltern sind tot, angeblich bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Eines Tages, an seinem elften Geburtstag, trifft auf abenteuerliche Weise ein Brief bei Harry ein - eine Einladung, die Hogwarts-Schule für Zauberei und Hexerei zu besuchen.
Nach und nach erfährt Harry nicht nur, daß es eine magische Welt parallel zur "normalen" gibt, sondern auch, daß er - zu seinem maßlosen Erstaunen - in dieser Welt eine große Berühmtheit ist. Denn ein böser, mächtiger Zauberer namens Voldemort tötete seine Eltern und versuchte dies auch bei ihm - und scheiterte nicht nur überraschenderweise dabei, sondern verschwand danach vollkommen von der Bildfläche, ein Grund zum Jubel für die magische Welt. (Daß er natürlich doch noch da ist und weiter für Ärger sorgt, darf hier wohl verraten werden.)
In Hogwarts fühlt sich Harry zwar wohl, hat aber auch manche Probleme, die Schüler auf der ganzen Welt seit Jahrhunderten bekannt sein dürften. Einige seiner Mitschüler sind fast schon extreme Prototypen: der dufte Kumpel Ron; die (zumindest am Anfang) nervtötende Streberin Hermione; der Tolpatsch Neville, der zwar das Herz am rechten Fleck hat, aber leider dauernd alles in den falschen Hals bekommt; oder das Ekelpaket Draco Malfoy, Karikatur eines arroganten Abkömmlings der Oberschicht, der Herkommen mit Charakter verwechselt.
In Hogwarts geht einiges vor sich, was Harry seltsam vorkommt. Und langsam, aber sich schält sich heraus, daß in der Schule etwas verborgen ist, auf das dunkle Mächte sehr scharf sind ...


Warum der Erfolg?

Warum nun ist Harry Potter wie eine Bombe eingeschlagen? Auf der Bestsellerliste der New York Times tummeln sich drei Harry-Potter-Bände unter den ersten zehn, der "Sorcerer's Stone" seit 65 (!) Wochen - zum Entsetzen der Kulturbeflissenen der ganzen Welt. Versuchen wir's zu erklären.
Harry Potter wird eher als normaler Typ geschildert, keineswegs als überragender Zauberschüler. Er sticht aus der Masse nur durch seinen Mut heraus. Mut ist bekanntlich die erfolgreiche Bekämpfung von Angst. Und Angst hat Harry mehr als genug: Davor, von Dudley und seiner Bande verdroschen zu werden; sich in Hogwarts zu blamieren, besonders weil alle viel von ihm erwarteten; vor einem Lehrer, der ihn offensichtlich auf dem Kieker hat und so weiter. Die Identifikation mit einem solchen Helden ist leicht. Sogar bei Erwachsenen: Der Rezensent der New York Times fühlte sich an seinen Start in Harvard vor 30 Jahren erinnert, als er als Arbeitersohn unter lauter Absolventen von Eliteschulen fürchtete, auf verlorenem Posten zu stehen.
Dazu kommt ein exzellent konzipiertes Handlungsgerüst und eine großartige Mischung aus Spannung und Humor. Wenn etwa erzählt wird, wie sich Harry und zwei Freunde im Mädchenklo gegen einen vier Meter großen Troll zur Wehr setzen, der drauf und dran ist, sie in die ewigen Jagdgründe zu schicken, ist das nicht nur aufregend, sondern auch ausgesprochen komisch. Die gleiche Mischung erwartet den Leser im großen Finale.


Satirischer Einschlag

Hinzu kommt ein fast satirischen Einschlag. Nicht nur sind einige von Harrys Mitschülern teilweise grotesk überzeichnete Karikaturen. Auch die Dursleys werden als die typisch materialistische Ein-Kind-Familie dargestellt, wobei Dudley einem fast leid tun kann, ist er doch zweifellos Opfer der antiautoritären Erziehung. An seinem elften Geburtstag beklagt er sich über nur 37 Geschenke - eines weniger als ein Jahr zuvor! (Harry wird von den Dursleys natürlich nie beschenkt.)
Oder "Quidditch", eine Art Fußball der magischen Welt, der in der Luft, auf Besenstielen, mit vier Bällen gespielt wird. Die Autorin nimmt mit leichter Hand die albernen Auswüchse rund um den heutigen Spitzensport aufs Korn. Zum Schieflachen, wie ein älterer Hogwarts-Schüler im Stil eines Rolf Töpperwien ein Quidditch-Spiel (allerdings zum Unwillen einer gestrengen Lehrerin nicht ganz neutral) kommentiert. Oder das Schicksal von Schiedsrichtern, die sich angeblich grobe Fehlentscheidungen zuschulden kommen ließen ...
Dieser satirische Einschlag ist frei von der penetranten Sozialkritik, die manche deutsche Jugendbücher durchzieht, die zwar von Erwachsenen, nicht aber von Kindern geschätzt werden.
Auch wenn Harry Potter konventionell endet (Showdown, Happy-End, Moral) - das muß ja kein Fehler sein, im Gegenteil. Geschickterweise werden nicht alle Geheimnisse gelüftet, was Spielraum für weitere Folgen läßt.
Inzwischen sind in Großbritannien vier Bände erschienen. Der vierte kommt in Deutschland wohl im August heraus. Und zur Freude der Fans hat sich Autorin J.K. Rowling vorgenommen, jährlich für jedes von Harrys sieben Ausbildungsjahren in Hogwarts einen Band zu schreiben. Man darf gespannt sein, wie sie Harry durch die Klippen der Pubertät manövriert.
Allerdings sollte man Harry Potter im Original lesen. Aus vier Gründen: Erstens ist es eine gute (und nicht schwere) Englisch-Lektion, zweitens sinkt das Lesetempo etwas, weswegen man länger genießen kann, drittens ist eine Übersetzung eben nur eine Übersetzung, und viertens ist vor allem die US-Paperback-Ausgabe (bei amazon.de 9 DM) deutlich billiger als der deutsche Hardcover (26 DM). Ein Tip sicher im Sinne der schottischen Autorin.

J. K. Rowling: Harry Potter and the Sorcerer's Stone. Taschenbuch, ISBN 0-590-35342-X, 5,99 US-$/9,00 DM.