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Kommissär Bärlach auf Kriegsverbrecherjagd

Friedrich Dürrenmatts "Verdacht"

Der Kriminalroman ist die direkte Fortsetzung von "Der Richter und sein Henker" (besprochen in POLITEIA 170, April 1997). Wir erinnern uns: Nach der "Aufklärung" des Falls Gastmann läßt sich der Berner Kommissär Hans Bärlach ins Spital einliefern, um sich einer schon lange angeratenen Magenoperation zu unterziehen. Während er zur Genesung und in Erwartung seines Ruhestandes im Krankenhaus liegt, stößt er beim Durchblättern der Zeitschrift "Life" auf einen Artikel über den SS-Arzt Nehle, der im Konzentrationslager Stutthof Menschen ohne Betäubung operiert haben soll.
Sein Freund und Leibarzt Samuel Hungertobel bringt Bärlach auf den Verdacht, daß Nehle mit Dr. Emmenberger identisch sein könne, der Leiter einer berühmten Klinik in Zürich ist. Der Kommissär, der seinem wohlerprobten Riecher vertraut, will der Sache nachgehen, obwohl er weiß, daß er nicht mehr lange zu leben hat und durch seine Bettlägerigkeit schwer gehandicapt ist.

Selbstversuch

Wie immer in seiner erfolgreichen Polizeilaufbahn, hält Bärlach dabei wenig von den "modernen kriminalistischen Methoden". Er bedient sich vielmehr zwielichtiger Gestalten, um sich gegen die Risiken abzusichern, die entstehen könnten, wenn er sich selbst auf den Zürcher Sonnenstein einliefern läßt. Doch es stellt sich heraus, daß es Unterschiede zwischen gewöhnlichen Verbrechern und mutmaßlich Nazi-Kriegsverbrechern gibt...
Obwohl, wie bereits beschrieben, das Schreiben von Kriminalromanen für Dürrenmatt aus einer Not geboren wurden, zeigt der Schweizer Autor auch im "Verdacht" wieder, daß er durchaus als Meister dieser Gattung angesehen werden kann. Meisterhaft baut er eine Atmosphäre auf, in der es einem bei von Narben übersäten Riesen, vergitterten Klinikfenstern, zu Schoßäffchen verkommenen Zwergen und Operationssälen Gruselschauer über den Rücken laufen läßt.

Fazit

Dies hält Dürrenmatt aber nicht davon ab, seine "Kollegen" mit ihren Krimis der Marke "nullachtfuffzehn, der Gärtner war's" auf die Schippe zu nehmen. Bärlach ist eben kein normaler Kriminalkommissar. Im "Richter und sein Henker" hatte Bärlach gezeigt, daß sein Weg zur Gerechtigkeit nicht unbedingt der "Rechtsweg" ist. Auch im "Verdacht" geht dies nicht ohne den Tod Schuldiger und Unschuldiger. Der inzwischen verstorbene Schweizer Autor geht noch einen Schritt weiter: Angesichts von Nationalsozialismus und Konzentrationslagern stellt er auch die Frage nach Wert und Sinn von Begriffen wie "Moral" und "Leben".
Doch keine Sorge: Wer spannende Unterhaltung mit einem Kriminalroman haben will, ist auch diesmal bei Kommissär Bärlach gut aufgehoben. "Der Verdacht" ist keineswegs ein (Taschen)Buch, mit dem nur Deutsch- und Philosophielehrer in der Oberstufe etwas anfangen könnten.

Friedrich Dürrenmatt: Der Verdacht, Diogenes AG Zürich, ISBN 3-257-21436-7, DM 9,80.

M.W.